Mittlerweile ist mein „Outing“ schon gute 2,5 Jahre her. Seitdem hat sich nicht nur meine Frisur verändert, sondern auch mein Kleidungsstiel und die Farbe auf meinen Fingernägeln. Seit Februar 2020 kleide ich mich als Frau. In diesem Beitrag möchte ich meine Gründe und Ängste vor dieser Entscheidung erläutern.
Geboren und aufgewachsen bin ich als Junge mit einem für Jungs typischen Kleiderschrank. Zu mindestens typisch, wenn wir von der „gesellschaftlichen Norm“ ausgehen. Ohne es auf mich zu beziehen, habe ich mich schon immer gefragt, warum in unserer Gesellschaft so eine klare Trennung gibt was Kleidung angeht. Vielleicht war das damals schon unterbewusst der Wunsch von mir auch mal was anderes anziehen zu können. Ich habe auch Menschen (meist Männer) bewundert, die sich anders kleiden.
So verliefen meine komplette Kindheit und Jugend. Im Februar 2020 bin ich aus dem Haus meiner Eltern in die erste eigene Wohnung (WG) gezogen. Aufgrund meiner Behinderung bin ich auf Assistenz angewiesen. (Dazu wird es noch ein gesonderter Blog geben). Ich weiß nicht mehr wie, aber ich bin mit einer Assistentin auf dieses Thema gekommen und habe mich das erste Mal jemanden geöffnet und den Wunsch geäußert, dass ich das mal ausprobieren möchte. Ein paar Tage später hat sie mir von sich aus paar Kleidungsstücke zum Testen mitgebracht. Seitdem Tag an hat sich mein Style schlagartig geändert. Diese Entscheidung bereue ich bis heute nicht. Würde sogar sagen, dass es einer der besten Entscheidungen meines Lebens war.
Dennoch hat es einiges an Überwindung gebraucht. Meine größte Angst, war die Reaktion der Gesellschaft. Wie nimmt das meine Umwelt auf? Auch meine Behinderung hat hier eine große Rolle gespielt. Ich hatte Angst das die Kombination schwierig wird. Als Mensch mit Körperbehinderung werde ich sehr oft nicht ernst genommen. Mir wird zusätzlich eine geistige Einschränkung angehängt. Viele alltägliche Reaktionen geben mir das Gefühl, dass ich nicht ernst genommen werde. Durch die Entscheidung mich als Frau zu kleiden hatte ich Sorge, dass folgendes Gefühl kommt: „Oh, der kleine behinderte bekommt jetzt auch noch ein Kleid angezogen“. Ich hoffe ihr versteht was ich meine. Ich wollte meinen Mitmenschen keine zusätzliche Last geben auch noch damit klarzukommen. Nach dem Motto: „Ich bin ja schon behindert“. Aber hier ist klar zu unterscheiden (Was ich auch lernen musste): Meine Behinderung ist nun mal da. Dafür kann ich nichts. Sollte ich nur aus diesem Grund meine rein Menschlichen Gefühle unterdrücken, nur um der Gesellschaft nicht noch mehr zu zumuten? Die Antwort ist ganz klar: Nein, auf keinen Fall. Das sind 2 völlig voneinander unabhängige Entscheidungen. Das musste ich für mich auch lernen.
Zusätzlich kam die Angst, die denke ich jede*r hat, ob ich so akzeptiert werde ohne Angst vor Angriffen zu haben. Wir hören ja leider öfter, dass Gruppen, die nicht der Norm entsprechen, Anfeindungen ausgesetzt sind.
Das hat eine Menge Überwindung gekostet. Aber es hat sich gelohnt. Ich fühle mich so wohl. Bisher haben sich keiner meiner Ängste bestätigt. Im Gegenteil. Ich bin bis heute überrascht wie durchweg positiv meine Umwelt reagiert hat. Klar gab es hier und da mal die Frage warum das Ganze, aber sonst waren die Reaktionen ehr so: „Krass, hätte ich nicht gedacht, aber irgendwie passt das, als wäre es nie anders gewesen“. Auch Leute, die ich erst nach meinem „Outing“ kennengelernt habe und erzähle, dass es erst seit 2 Jahren so ist, wundern sich eher, dass es nicht schon immer so war. Ich glaube das es viel damit zu tun hat, dass wenn man sich selbst akzeptieren kann und 100% hinter der eigenen Entscheidung steht, die es Umwelt auch leichter akzeptieren kann.
Vorher war mir immer völlig egal, was ich anziehe. Auch Shoppen kam mir ehr als Pflichtprogramm vor und wurde aufgeschoben, bis auch meine letzte Hose wie ein Schweizer Käse aussah. Ich habe es gehasst, weil ich auch echt keine Ahnung hatte, was ich kaufen soll. Das ist jetzt komplett das Gegenteil. Ich muss zwar zu geben, dass ich anfangs viel online bestellt habe, weil ich große Hemmungen hatte in die Frauenabteilung der Geschäfte zu gehen. Teilweise habe ich diese noch immer. Wobei, wenn der erste Schritt getan ist, macht es auch echt Spaß (: Manchmal muss man sich Sachen trauen und sich Überwinden, um es danach zu lieben. Und wer weiß, vielleicht denke ich in ein paar Jahren noch mal anders, aber im Hier und Jetzt fühlt es sich sehr richtig an!
Abschließend kann ich nur sagen, trau Dich Dein Weg so zu gehen, wie es sich für Dich richtig anfühlt. Es bringt nichts, etwas nicht zu machen nur weil du Angst vor der Umwelt hast. Wenn du dich mit deiner Entscheidung wohl fühlst, ergibt sich alles andere von selbst!
Viele Grüße
Linus